Das Kreuz mit der Barrierefreiheit: Viele Standards, viel Verwirrung, viele Köche. Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut gemacht.

Barrierefreiheit: Wenn Blinde von Blinden reden

Die gedachte Realität

Wenn von Barrierefreiheit im Web die Rede ist, stellen sich die Meisten zunächst einmal blinde Menschen vor, die mühsam den Quellcode auf Braille-Lesegeräten entziffern müssen, um an die Informationen zu gelangen. Der Haken dabei: Braille-Lesegeräten sind sauteuer, umständlich und mühsam - und deswegen kaum in Verwendung.

Tatsächlich nutzen blinde Menschen Screenreader, also Vorlese-Programme: Gratis bis billig, erstaunlich gut.

So ein Programm erkennt, dass eine Ansammlung von Links auf der selben Website ein Menü ist, dass ein mittiger Bereich mit Überschriften, Text und ev. Bildern ein Inhaltsbereich ist und dass etwas in einem schmalen Bereich am Rand eine Sidebar ist. Ein Programm  wird sogar erkennen, dass der Inhalt des Sidebar der gleiche ist wie auf der vorigen Seite und ihn nicht erneut vorlesen.

Javascript wird ganz normal ausgeführt, ebenso wird CSS interpretiert.

Tatsächlich ist der Anteil an blinden Menschen, die das Internet nutzen, sehr gering (< 0.1 Promille der Gesamtbevölkerung). Das liegt im wesentlichen daran, dass der größte Teil an Blinden „Spät-Erblindete“ sind, also Menschen, die erst im hohen Alter erblindet sind. Da hier meist die Erblindung über Jahre hinweg schleichend erfolgt, nimmt auch die Internet-Nutzung in dieser Zeit immer mehr ab.

Veraltete Standards...

Die Standards zur Barrierefreiheit haben durchschnittlich 10 Jahre auf dem Buckel, und wahrscheinlich haben die Gremien zuvor 5 Jahre getagt. Das ist zu langsam für die Entwicklung im Web.

… und krude Theorien

Nein: Tabellen sind nicht böse. Sie dürfen einfach nur keine th, caption usw enthalten, dann gelten sie als Layouttabellen und die Tags werden nicht weiter beachtet. Sie müssen linearisierbar sein – was nebenbei auch für divs gilt.
Und nein: Nicht jedes Bild muss einen alt-text haben – im Gegenteil: Statt irgendeinen redundanten Unsinn hinzuschreiben, lässt man ihn besser leer. Longdesc: Nur für Bilder, die für das Verständnis des Inhalts wesentlich sind. Keinesfalls irgendein automatisiertes Blabla.

Für die grobe Überprüfung verwenden wir den WAVE-Test, weil dieser einfach in der Handhabung ist und nachvollziehbare Ergebnisse liefert: https://wave.webaim.org/

Worauf es wirklich ankommt

Natürlich sollen wir unsere Websites barrierefrei machen – oder zumindest so weit wie möglich zugänglich. Gewisse Mindeststandards sind einfach umzusetzen – hier sollten wir mehr darauf achten.

Was wir aber vergessen sollten, ist der Blinde mit dem Braille-Reader – im Konfliktfall zugunsten anderer, weit größerer Gruppen: Motorisch eingeschränkte Menschen, die eine Maus nicht punktgenau bewegen können, Farbenblinde, und die größte Gruppe von allen: Menschen, die mehr oder weniger kognitive Einschränkungen haben.

Wichtiges Thema: Einfache Sprache

Wir müssen nicht einmal sogenannte "kognitiv eingeschränkte Menschen" vor Augen haben: Was für uns klar ist, kann auch normal intelligente Menschen überfordern, wenn sie in der Thematik insgesamt kein Grundwissen haben.

Verständliche Inhalte, klare Gliederung. Sinnvolle Menütitel. Wir können vielleicht argumentieren, dass unsere Dienstleistung so oder so ein gewisses Verständnis der Materie voraussetzt; wie will jemand eine Zeitschrift oder eine Website veröffentlichen, wenn er nicht selbst gut schreiben kann.

Diese Ausrede gilt für andere nicht: Websites für Menschen bei der Feuerwehr, bei Vereinen, in Religionsgemeinschaften, aber auch Schulen und andere öffentliche Einrichtungen. Hier können wir kein besonderes Wissen voraussetzen, wir müssen die Information klar und verständlich vermitteln.

Sogar ich als durchschnittlich intelenter ;-) Mensch habe auf vielen Websites Schwierigkeiten, den Sinn der Seite zu erkennen – und zu verstehen. Ganz besonders zb auf den Seiten des W3C zum Thema Barrierefreiheit. ;-)